Autor Siegfried Fleischer (Zetti) / Wolta. Neu bearbeitet von Helmut Fiedler / Wolta
Es gab in der Umgebung von Trautenau
viele "Persönlichkeiten", die für uns Kinder von großer Bedeutung
waren. Ob es nun die Ejominke (Eierminke), die Kucharöse, die Houderbautschen,
dous tölsche (dumme) Mariela oder der Dorla, der Fifikus, Saaksejdl, do bimsche
Wenzel, do Qualschner Bolkatrater (den Blasebalg der Kirchenorgel betätigen),
do Borowitzer Seff, do Hacklastaude, der originellste war Zikajnowalto (Zigeunerwalter),
der unseren Ort zwei bis dreimal im Jahre besuchte.
Wer ihn nach seiner Heimat befragte, dem sagte Walter er sei der "Walter
von Obersoor, Grafensohn". Die Stimme überschlug sich dabei und im "Grafensohn"
rollte er das "R" nur so. Seine Heimatgemeinde, bei der im Schlesischen
Erbfolgekrieg eine Schlacht geschlagen wurde, war jedoch anderer Meinung. Sie
hat ihren Sohn stets verleugnet.
Dass Walter zu den Musizierenden gehörte, wen sollte es verwundern? Wenn man
einen so bedeutenden Namensvetter hat, der einst singend durch "Teutsche
Lande" zog, verpflichtet das geradezu. Dass jener andere Walter
zwar auch blauen Blutes nicht von Obersoor, sondern aus dem Etschland
stammte, ist seine Schuld. Ich jedenfalls habe mir den großen Minesänger stets
nur mit Gewaltigem Schnurrbart und breitkrämpigem, schwarzen Hut vorstellen
können. Am Hut rote Papierblumen.. Dass er die Harfe gespielt haben soll, wie
das Denkmal zeigt, kann ich bis heute noch nicht glauben. Mein Walter hatte
jedoch eine, mit drei Telefondrähten als Seiten, zerschundene Geige.
Eingedenk seiner hohen Abstammung sang Walter immer sein Lieblingslied von den
drei Grafen. Auf hohem Berge stehend, ins Tal hinabschauend, sah er sich im
Schifflein dahin fahren. Das "A" war sein Hauptvokal. Jedenfalls
riß er dabei den gräflichen Mund weit auf, ein Schwalbenpärchen hätte mühelos
ein- und ausfliegen können.
Dem Grafensohn mag es hart angekommen sein, aber von Grafenliedern allein ließ
es sich in jenen Jahren schlecht leben. Er musste in herbe Welt der Moderne
herabsteigen mit: "Ich hab das Fräulein Helen baden sehn" oder "Was
machst du mit dem Knie lieber Hans" oder "Heut war ich bei der Frieda
und morgen geh ich wieda". Dabei griff er beschwingt in die Saiten, und
die Fußspitzen wippten den Takt im Charleston Schritt.
Im Frühjahr, um Josephi, waren Musterungen (damals Assentierung genannt). Die
Burschen wurden nicht gern Soldat im Heer dieses verhaßten Staates. War man
aber für tauglich befunden worden, so steckte man halt den Messingknopf an,
auf dem "tauglich" stand aber in einer anderen Sprache. Damit es nicht
gar so traurig war, wenn man an die zwei kommenden Jahre dachte, die man in
einer verdreckten Garnison im äußersten Osten würde abreißen müssen, schmückte
man sich noch mit einer großen Papierblume im Knopfloch. Um jene Tage war "Walter
von Obersoor" rein aus dem Häuschen. Den Messingknopf hatte er angesteckt
und in der Hand hielt er einen großen Papierblumenstrauß. Jedem zeigte er seinen
Messingknopf und voll Stolz sagte er "Vatter Walter schopen (tauglich)".
Seine Gesänge waren in diesen Tagen ernster. Er sang nicht vom armen Giggolo
oder von der Elisabeth, die so schöne Beine hat. Steh ich in finstrer Mitternacht
passte in diesen Tagen schon besser zu ihm.
Es hätte schon kurios zugehen müssen, hätte ich nicht auch Walters Feuer gesessen.
Oh, ich habe sogar von dem Kaffee getrunken, den die Walterin aufbrühte. Nur
die Pfeife, die die beiden von Mund zu Mund wechselten, habe ich nicht geraucht,
er hat sie mir selbstlos angeboten. Einen Schweinepelz hat mich meine Mutter,
als ich heim kam und nach Rauch stank, genannt. Ob ich mich denn gar nicht schämen
würde in solch einer Gesellschaft zu sein!
Betteln ging Walter nicht, er sang, das genügte. War einer, der nicht wahrhaben
wollte, dass er kein guter Sänger war, konnte er etwas hören. Walter ließ es
jeden wissen, der seine Kunst nicht genügend honorierte.
Im Volksmund deutete man den Schlag der Kohlmeise "tütütack, tütütack"
als "Müßigsack, Müßigsack". Mit diesem Rufen konnten wir Jungen ihn
maßlos ärgern, und so lief dann alles ab:
Mit genügendem Sicherheitsabstand begann einer "Müßigsack, Müßigsack"
zu pfeifen. Walters Mund wurde beim "A" noch größer. Der Griff in
die Saiten härter und energischer. Dann pfiff ein anderer. Die Spitzen seines
Schnurrbartes begannen zu zittern, es folgte ein Stampfen mit den Füßen. So
ging das Spielchen weiter bis schließlich aus dem fahrenden Sänger mit dem blauen
Blut ein Rachengel wurde. Er fing an zu schreien: "Du kriegst eins mit
dem Hirschfänger. Du kriegst eins mit der Nainmillimeter (Revolver). Du bist
ein Kind des Todes". Dann hieß es aber laufen.
Die Walterin war häßlich, sogar sehr häßlich. Später musste sie mit Krücken
gehen. "Hab Knochenfraß gehabt, liebe Frau", krächzte sie und bettelte
dann um eine halbe Krone. Jedenfalls hatte die Walterin ein hartes Leben. Ging
sie betteln und kam nicht gleich wieder, dann rief Walter, er war schrecklich
eifersüchtig auf sie, ihr die fürchterlichsten Schmähungen und Flüche nach.
Du "Egerländer Hure" war noch das harmloseste. Die Walterin konnte
aus der Hand lesen. Böhmisch zirkeln (Taschendiebstahl) konnte sie nicht mehr
so recht, seit sie mit den Krücken gehen musste.
Ganz schlimm war es für Walter als seine Frau im Krankenhaus in Trautenau war
und ihr ein Fuß amputiert werden musste. Irgend jemand hatte in dieser Zeit
dem Ehegatten zugetragen, dass seine bessere Hälfte es dort mit dem Herrn Primarius
(Chefarzt) treibe. Während er singend umher zöge, führe sie im Spital ein flottes
Leben. So etwas konnte sich Walter doch nicht bieten lassen. Er fuhr mit dem
hochrädrigen Kinderwagen ins Krankenhaus. Stellte den Wagen samt Bagage vor
dem Eingangsportal ab, sauste beim Pförtner vorbei, was heißt hier schon
Besuchszeit , und die Treppe hinauf. In allen Korridoren suchte er mit
fürchterlichen Verwünschungen und Worten nach seiner, ach so treulosen Schlampe.
Was haben sich da die armen barmherzigen Schwestern alles anhören müssen. Nur
mit Gewalt gelang es den Wütenden aus dem Hause zu bringen. Hätte er seine Walterin
gefunden, hätte sie erst einmal eine Tracht Prügel bezogen und sofort mit ihm
gehen müssen.
Apropos Prügel: Die bezog seine Ehehälfte ständig und überall. Ein Ahnungsloser
brauchte nur der Walterin ein Schärflein geben, wenn er gesungen hatte. Spätestens
hinter der nächsten Hausecke erhielt sie, was ihr gebührte, eine Tracht Prügel.
Aber sie war auch nicht auf den Mund gefallen und Walter bekam dann Worte zu
hören, die seinem Repertoire nicht nachstanden. Einmal hat er sie bei solch
einer Gelegenheit in den Dorfbach geworfen. Wollte einer der armen Walterin
zu Hilfe eilen, so wehrte sie seine Hilfe entweder mit den Worten ab: "Das
ist mein Mann, der kann mit mir machen was er will", es konnte auch geschehen,
dass sie ihm ohne großen Kommentar ihre Krücken nach warf und wenn es ganz schlecht
ausging, ihn mit den Krücken verprügelte.
Vierzehn Kinder soll Walters Gefährtin das Leben geschenkt haben. Nur zwei davon
haben das harte Zigeunerleben und Walters rauen Umgang überstanden. Es waren
zwei muntere Bengel. Der Joußi, 1938 vielleicht sechs Jahre und das Antonele
vielleicht vier Jahre alt. Besonders das Joußilein war ein fixes Kerlchen, er
beherrschte das Zirkeln (Taschendiebstahl) schon recht ordentlich. Sicherlich
wäre aus den beiden Jungen einmal würdige Nachkommen des Grafensohnes geworden,
doch leider machten die politischen Verhältnisse 1938 der Familie zu schaffen.
Das Militär, erdbraun mit Becherhelmen, war abgezogen. Das andere, unsere Befreier,
wurden erwartet. Ein Aufgebot von Ordnern mit Armbinden drängte das Volk wichtigtuerisch
auf die Bürgersteige, man stand Spalier und erwartete die Befreier, die jeden
Augenblick kommen mussten. Als erster kam jedoch unser Walter von Obersoor.
Er schob seinen Wagen mit der Bagage. Obenauf saß der kleine Antonele, sein
Bruder Joußi trippelte und hüpfte dicht an der Menge vorbei. Die Walterin mit
ihren Krücken humpelte hinterdrein.
"Na, Walter, jetzt heißt es arbeiten" rief ein Hundertfünfzigprozentiger
aus der Menge. Walter blieb stehen und verkündete in voller Lautstärke: "Arbeiten
kann wer will, ich nicht! Heil Hitler". Um Politik hat er sich nie gekümmert
und das sollte auch so bleiben.
Wochen danach, es lag schon Schnee, sah ich die fahrende Familie zum letzten
Mal. Walter zog den Schlitten, die Walterin mit ihren Buben kam hinterher, gefolgt
von einem Wachtmeister. Es ging steil bergauf in dem engen Gässchen. Walter
musste sich ins Zeug legen aber er schaffte es einfach nicht. Der Gesetzeshüter
musste mit schieben helfen, ob er es wollte oder auch nicht. Auf der Landstraße
angekommen, knallte Walter Hacken zusammen, hob die Hand salutierend an die
Hutkrempe und bedankte sich mit: "Danke Herr Oberst, danke Herr Oberst".
Unser Grafensohn mit Familie zog dann weiter in Richtung Trautenau. Dort wird
man sie auch nicht mehr geduldet haben. Es waren harte Herren gekommen mit dem
neuen Regime. Es wird wohl nicht gut geendet haben mit der Familie, man hat
nie wieder etwas von dem Grafensohn "Walter von Obersoor" gehört,
noch hat man sie jemals wieder gesehen.
Seitdem ist viel Zeit vergangen. Was wir einst Heimat nannten, haben wir verloren.
Aber gern denke ich an meine Heimat und die Zeit zurück, die es sich leisten
konnte einen "Walter von Obersoor" zu haben.